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Tour de France: Jan Ullrich im Exklusiv-Interview über Tadej Pogacar, Jonas Vingegaard und Primoz Roglic

Update 28/06/2024 um 14:59 GMT+2 Uhr

Jan Ullrich blickt voller Vorfreude auf die am Samstag beginnende Tour de France 2024: Der Sieger der Frankreich-Rundfahrt 1997 wird am 2. und 3. Juli Studiogast im Velo Club von Eurosport sein und dort den Radsportfans seine Experten-Analyse zum Renngeschehen liefern. Hier schätzt er im Exklusiv-Interview die Siegchancen der Stars und die besondere Streckenführung der 111. Tour de France ein.

Exklusiv: Ullrich im großen Eurosport-Interview zur Tour de France

Vier große Favoriten führen das Starterfeld bei der Tour de France an: Der Sieg geht nur über Jonas Vingegaard, Tadej Pogacar, Primoz Roglic und Remco Evenepoel. Jan Ullrich, einziger deutscher Tour-Sieger der Geschichte, beurteilt im Eurosport-Interview die Chancen des Star-Quartetts und die besonderen Herausforderungen der Tour de France 2024.
Besonders zu den Siegchancen von Titelverteidiger Vingegaard und dem Angriff von Pogacar auf das Double hat der 50-Jährige eine klare Meinung.
Herr Ullrich, Sie haben am Wochenende die Deutschen Straßenrad-Meisterschaften in Bad Dürrheim besucht – wie war die Stimmung?
Jan Ullrich: Es war grandios. Dafür finde ich kein anderes Wort. Am Sonntag bei den Herren war fantastisches Wetter und sehr viel Publikum. Ich konnte auch eine Runde im Begleitfahrzeug mit um den Kurs fahren und wir haben an den Anstiegen angehalten, wo viele Leute standen. Die Stimmung war grandios! Rik Sauser hat das mit seiner Familie und seinem Team wieder sehr gut organisiert. Ich habe nur positive Reaktionen gehört und fand es toll, dass erstmals auch ab der U15 alle Nachwuchsklassen dabei waren und die große Bühne bekommen haben. Außerdem haben die Fahrer, die Hauptdarsteller, natürlich auch eine gute Show geboten. Und vor allem – eine überzeugende Leistung gezeigt.
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Sie werden am 2. und 3. Juli Gast in unserer Radsportshow Velo Club sein, nach der 4. und 5. Tour-de-France-Etappe. Wie groß ist die Vorfreude auf die Tour?
Ullrich: Die Tour de France ist immer ein Highlight. Auch wenn mein Tour-Sieg schon ein paar Jahre zurückliegt,  habe ich die Tour immer verfolgt und bin weiterhin großer Fan des Radsports – und ich würde mich auch zu den Fachmännern zählen. Ich freue mich riesig drauf, denn wir werden wieder grandiosen Sport sehen.
Jonas Vingegaard ist als Titelverteidiger wieder dabei. Wie fit kann er nach seiner schweren Verletzung schon wieder sein? Fährt er voll auf Gesamtwertung oder doch eher auf Etappensiege?
Ullrich: Dahinter steht noch ein Fragezeichen. Ich glaube nicht, dass er mit diesem langen Ausfall nach dem Sturz bei der Baskenland-Rundfahrt im Frühjahr um den Sieg mitfahren kann. Sein Team hat im Vorfeld gesagt, er werde nur starten, wenn er topfit ist. Aber es fehlen vier, fünf Wochen Training und daher glaube ich nicht, dass er um den Sieg mitfahren kann. Trotzdem kann er sicher ein gutes Rennen fahren und wäre nicht nominiert, wenn er keine gute Form hätte.
Was würden Sie als einer seiner Rivalen tun? Sollte man ihn schon auf den ersten schweren Etappen, zum Beispiel über den Galibier, attackieren, solange seine Form eventuell noch nicht bei 100 Prozent ist?
Ullrich: Nun, das ist ja eine sehr theoretische Frage. Aber ich will ihr gar nicht ausweichen: Heutzutage geht es teilweise um Sekunden bei den großen Rundfahrten. Da muss man jede Chance nutzen. Das sieht man auch bei Pogacar, der teilweise ja sogar bei den Zwischensprints dabei ist, wenn es Bonussekunden zu gewinnen gibt. Allerdings wird die Tour dieses Jahr in der letzten Woche nochmal richtig, richtig schwer. Sich in der ersten Hälfte der Tour zu verausgaben , das würde ich nicht machen. Aber wenn sich Chancen ergeben, muss man sie nutzen.
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Ullrich: Pogacar-Double? "Hat Giro aus dem Training heraus gefahren"

Pogacar hat im Mai den Giro d'Italia überlegen gewonnen und wagt jetzt den Double-Versuch. Ist das machbar?
Ullrich: Ja. Pogacar ist einen grandiosen Giro gefahren und hat ihn mit fast zehn Minuten Vorsprung gewonnen. Und das, obwohl er  gesagt hat, er sei noch nicht in Topform und wäre mehr aus dem Training heraus gefahren. Da bin ich gespannt, was er zeigt, wenn er wirklich in Topform ist! Er hat ein gutes Team und auch einen guten Trainer um sich. Pogacar weiß, dass die Tour de France diesmal in der letzten Woche besonders schwer ist und musste deshalb jetzt etwas haushalten. Aber mit der Konstellation, dass Vingegaard aus einer Verletzungspause kommt, ist es auf jeden Fall machbar.
Sie sind mit Pogacar befreundet. Wie ist er als Fahrer und Mensch?
Ullrich:  Er bringt eine gewisse Leichtigkeit in den Radsport, lächelt und ist immer gut drauf. Er attackiert in Situationen, in denen keiner damit rechnet und will vor allem eines -  Rennen fahren.  Als ich ihn mal gefragt habe, wohin man in Monte-Carlo - wo er ja mit seiner Freundin wohnt - gut ausgehen kann, hat er gesagt: "Weiß ich nicht, denn ich sitze immer nur auf dem Fahrrad, wenn ich dort bin." Der Junge will einfach Rad fahren, weil es ihm Spaß macht. Er ist für mich der Eddy Merckx unserer Zeit.
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Pogacar will das Double: Ausblick auf den großen Tour-Vierkampf

Hat Red Bull-Bora-hansgrohe mit Neuzugang Primoz Roglic auch eine Siegchance?
Ullrich: Definitiv, die haben sie! Denn wir wissen: Radsport ist nicht komplett programmierbar. Ein Sturz, eine Verletzung oder auch einfach ein Magen-Darm-Virus kann dem besten Fahrer den Tour-de-France-Sieg kosten. Bora ist  gut aufgestellt. Roglic hat zuletzt seine sehr gute Form bewiesen – zusätzlich war er ja nochmals im Höhentrainingslager. Die Chance ist auf jeden Fall da.
Vingegaard und Pogacar wirken manchmal fast etwas übermütig, attackieren wie wild und versuchen immer alles. Das ist toll anzusehen, kostet aber auch Kräfte. Ist kluge Krafteinteilung gegen sie vielleicht eine Waffe und spricht die Erfahrung da vielleicht für Roglic?
Ullrich: Ja, die Erfahrung spricht für Roglic. Zudem hat er schon Giro und Vuelta gewonnen. Doch das gilt trotz des geringeren Alters eben auch für Vingegaard und Pogacar. Das waren positive Erfahrungen wie mehrere Grand-Tour-Siege und auch negative Erlebnisse wie etwa der Einbruch von  Pogacar im letzten  Jahr. Auch das ist eine wichtige Erfahrung. Spätestens jetzt weiß er, wie wichtig es ist, mit seinen Kräften hauszuhalten. Doch ihn zu zügeln wird schwer. Das wird eine der Aufgaben des Team-Managements sein. Auf der anderen Seite: Wir wollen ja die Attacken sehen. Als Fan hofft man darauf.
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Ullrich nennt seine Tour-Favoriten: "Roglic hat sehr gute Chancen"

Sie haben sich die Strecke schon genau angeschaut. Wo liegen die Schwierigkeiten bei dieser Tour de France?
Ullrich: Anders als zu meiner aktiven Zeit - als zu Beginn in der ersten Woche die Sprintetappen anstanden und wir uns für die Berge  einrollen konnten -,  geht es jetzt schon in Italien gleich schwer los – es ist wellig und man muss aufpassen, sich aus Stürzen herauszuhalten. Und schon auf der 4. Etappe beginnt mit dem Galibier der Anstieg in die Berge. Das bedeutet: Die Fahrer müssen schon mit 99 Prozent Form in die Tour reingehen. Am Ende führt die Strecke  über die Pyrenäen wieder zurück in die Alpen für eine schwere Final-Woche mit sehr hartem Zeitfahren zum Abschluss in Nizza.
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Was bedeutet das für die Taktik über drei Wochen?
Ullrich: Wer gewinnen will, muss diesmal sehr, sehr taktisch fahren – und zusätzlich Zeit gewinnen, wann immer man einen guten Tag hat. Denn: Kein Fahrer, auch nicht Pogacar oder Vingegaard, hat in einer Tour de France nicht auch mal einen schlechten Tag. Und vielleicht erwischt man da gerade eine Bergetappe. Wenn Du gewinnen willst, musst Du immer versuchen, dem anderen auf den Zahn zu fühlen und schauen, wo Du Zeit herausholen kannst.
Sie kennen aus Ihrer aktiven Zeit auch Grischa Niermann und Rolf Aldag – die zwei Masterminds bei Visma-Lease a Bike und Red Bull-Bora-hansgrohe. Was macht sie zu so starken Sportdirektoren?
Ullrich: Die Erfahrung! Beide waren ja sehr lange selbst Profis und haben anschließend auch umfassend Erfahrung als Sportliche Leiter gesammelt, Rolf gleich bei mehreren Teams. Doch es kommt nicht nur auf die Chefs an, sondern aufs gesamte Team. Radsport ist Mannschaftssport und das gilt ganz besonders auch für den Betreuerstab.
Der Kopf spielt im Spitzensport auch immer eine Rolle. Wie sehen denn Psycho-Spielchen zwischen Tour-Rivalen aus, welche Strategien könnte es da geben?
Ullrich: Bei der Psychologie geht es auch um Teampräsenz. Wenn man für jedes Terrain herausragende Helfer hat und es gut läuft, dann trägt das entscheidend dazu bei, als Mannschaft in einen sehr positiven Flow zu kommen. Doch oft scheiden einzelne Teammitglieder während einer Tour verletzt oder krank aus. Um das zu verhindern, dass das passiert, muss man sich entsprechend gut vorbereiten. Denn es ist vor allem die Teampräsenz, die besonderen Eindruck machen kann bei der Konkurrenz. Und dann gibt es noch die persönlichen Tricks: Ich selbst habe zum Beispiel immer versucht, selbst dann noch zu lächeln, wenn Richard Virenque oder Marco Pantani sich umgeguckt haben - und ich das Brennen in meinen Beinen spürte.  Doch meinem Gegnern wollte ich ein anderes Signal senden: "Hey, ihr mögt Probleme haben - aber mir geht's gut…"
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Marco Pantani, Jan Ullrich, Richard Virenque bei der Tour de France 1997

Fotocredit: Getty Images

Die Tour endet erstmals seit 1989 mit einem Zeitfahren. Was ist auf diesem Kurs in Nizza möglich?
Ullrich: Alles, denn ein schweres Zeitfahren – und das ist die letzte Etappe in Nizza – kann die Gesamtwertung in einem engen Feld komplett auf den Kopf stellen. Für die Zuschauer ist es toll, auch weil Teil des diesjährigen Zeitfahrens ein für die letzte Etappe ungewöhnlich harter Anstieg ist. Wir erinnern uns: Vor vier Jahren hat Pogacar auf der vorletzten Etappe an der Planche des Belles Filles im schweren Bergzeitfahren Roglic noch abgefangen. Und was auch interessant ist: Die Spannung wird so einen zusätzlichen Tag gehalten, anders als bisher, wenn die Schlussetappe nur noch locker nach Paris gebracht wird. Was bei einem finalen Zeitfahren herauskommen kann, das haben wir damals 1989 mit Greg LeMond und Laurent Fignon beim Krimi um einen minimalen Vorsprung erlebt, der am Ende nur acht Sekunden betrug. Auch dieses Mal kann etwas Besonderes passieren am letzten Tag!
Ein Einzelzeitfahren am Ende einer Grand Tour ist immer anders als bei der WM oder Olympia. Wie sehr verschieben sich da die Kräfteverhältnisse am Ende einer dreiwöchigen Rundfahrt? Sind da ein Zeitfahr-Weltmeister wie Evenepoel oder Zeitfahr-Olympiasieger Roglic auch noch automatisch Top-Favoriten für die Etappe?
Ullrich: Nein, und das aus folgendem Grund:  Es werden sich zwei Gruppen bilden: Starke Zeitfahrer, die nichts mit der Gesamtwertung zu tun haben werden und die an den Tagen vor der Schlussetappe   Kräfte sparen und im Gruppetto mitfahren, damit sie dann beim Zeitfahren möglichst frisch sind. Die Gesamtwertungsfahrer dagegen müssen jeden Tag vorne bleiben. Diese Handvoll Fahrer, dazu zähle ich Vingegaard, Pogacar, Roglic und Evenepoel, werden sich da keine Blöße geben. Und, wenn es für ihre Platzierung erforderlich ist, auch auf der letzten Etappe alles geben.
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Ullrich analysiert Tour-Strecke: "Musst mit 99% Form reingehen"

Jetzt haben wir viel über die Tour gesprochen - wer gewinnt sie denn?
Ullrich: Das steht in den Sternen. Die vier Kandidaten, die meines Erachtens um den Sieg mitfahren können, habe ich gerade genannt. Die besten Chancen, denke ich, hat Pogacar. Aber von dem, was ich im Vorfeld gesehen habe, hat auch Roglic gute Karten, weil er zusätzlich Steigerungspotential für die Tour hat – auch Evenepoel ist ein guter Kandidat. Auch wenn er noch anderthalb oder zwei Kilo zu viel hatte in den letzten Wochen. Wenn er die jetzt im Höhentrainingslager verloren hat, dann ist er noch stärker am Berg und kann um den Gesamtsieg mitfahren.
Sie selbst sind jahrelang um den Tour-Sieg gefahren. Gibt es etwas, was für die Zuschauer nicht offensichtlich ist im Rennverlauf, trotzdem aber eine große Rolle spielt?
Ullrich: Das ist eine schwierige Frage. Aber was mir dabei einfällt, sind die ganzen zusätzlichen Dinge, die kommen, wenn man das Gelbe Trikot trägt. Einerseits kommt man dadurch in ein positives Gefühl, in einen Flow. Andererseits bringt es aber unglaublich viele Aufgaben mit sich – Pressekonferenz, die zahlreichen Fans vor dem Hotel, denen du dich ja auch widmen musst. Die Folge ist: Man kommt viel später zurück ins Hotel. Ich habe dann manchmal nicht um 20:30 Uhr sondern um 22:30 Uhr zu Abend gegessen. Alles verschiebt sich nach hinten und das wirkt sich natürlich aufs Rennen aus. Man ist einfach nicht mehr so ausgeruht wie die anderen.
Momentan zeichnet sich um einen anderen ehemaligen Tour-de-France-Sieger eine traurige Geschichte ab: Bradley Wiggins hat laut seinem Anwalt finanzielle Probleme und wohl auch keinen Wohnsitz mehr. Was würden Sie ihm aus Ihrer persönlichen Erfahrung heraus raten?
Ullrich: Wenn das, was berichtet wird, wirklich stimmt, dann würde ich ihm sagen, dass er auf die falschen Leute gehört hat. Mir hat nach meinem Absturz geholfen, dass ich mein Umfeld wirklich sortiert und die richtigen Menschen – Freunde und Familie - wiedergefunden und auf die gehört habe, die es wirklich gut mit mir meinen. Das würde ich auch ihm empfehlen: Aufs Umfeld zu schauen, einen Schnitt zu machen und auf die richtigen Leute vertrauen.
Vielen Dank Herr Ullrich - wir sehen uns am 2. und 3. Juli im Velo Club bei Eurosport!
Ullrich: Ich freu mich riesig drauf! Bis dann!
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Ullrich: "Vingegaard kann nicht um den Sieg mitfahren, aber..."


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